Tagebuch von Clara Katharina Pollaczek, 22.–24. Mai 1931


spazieren. Zwischen 6 und 7 werde ich angerufen und wie ich mich
melde wird das Hörrohr lautlos fortgelegt.–Nicht das erste Mal.

23.5. Vormittag Stadt. Nachmittag Tante Clara und Tante Sidonie bei mir zum
Thee. Sie streiten unaufhörlich. Nachher bei Wellesz, wo Irene Hellmann, Maria
Mayer, Yella Oppenheimer waren. Zu Fuss nachhause. A. angeblich wieder allein
zuhause. Ich glaube es nicht. Ich bin unglücklich. Ich weine um das, was er
zugrunde gerichtet hat.

Harry heute Mittag bei mir. Er will im Juli nach Argentinien. Ich bin so müde
und Stumpf, dass ich mich gegen nichts mehr zu wehren vermag.

24.5. Ludwig Schüller hat sich erschossen, jedenfalls unauffindbar. Stefan
Ausspitz Selbatmordversuch. Grund offenbar der Zusammenbruch der Bank
Ausspitz-Lieben. Kein Mensch ahnte etwas. Wer weiss, wie viele Existenzen
da mit in einen Abgrund sausen.

mit A. Vormittag kurze Spazierfahrt bei strahlendem Wetter. Wir weniger
strahlend. Dann zu Tisch bei ihm und Heini. Konversationen über Theater.
Vor Tisch kleidete A. sich um, wobei er die Türe in sein Schlafzimmer ängst¬
lich verschloss, als ob ich ihm je ungerufen folgen würde.

Für Abend (wir sollten zusammen sein) sagte er mir ab, obwohl er meine Fa¬
milie eingeladen hat und trotzdem er weiss, dass ich ganz allein bin und
meinem Mädchen den Pfingstsonntag freigegeben habe. Ferry D. ist heute Abend
auch dort. Trotz meines Ersuchens hat er A. scheinbar nicht aufgesucht.
Ich bin von Lüge Verrat und Falschheit umgeben.

24.5. Abend. Ich wollte schon allein in die Stadt fahren und mich irgend¬
wo in ein Restaurant setzen, als mich Egon anrief, ob ich nicht mit ihm und
einem Ehepaar Engel in einem kleinen Gasthof im Kaagraben nachtmahlen wolle.
Ich war sehr froh und lief gleich hinüber. Aber der Abend war irgendwi[e] be¬
drückt, vielleicht lag die Bedrückung auch in mir. Es war viel von Ludwig
Schüller die Rede, der noch gar nicht aufgefunden ist. Es würde mir eigent¬
lich mehr zu seinem Bild passen, wenn er durchgegangen wäre, um sich irgend¬
wo eine neue Existenz zu gründen.