Clara Katharina Pollaczek an Arthur Schnitzler, 12. November 1930

Wien, 12.11.1930.

An A.S., Berlin.

Liebster,

ich schreibe diese Zeilen noch im Bett, das ich seit Deiner
Abreise noch nicht verlassen habe. Ich habe mich gleich als ich heim¬
kam, niedergelegt und will mich einmal gründlich auskurieren. Gestern
habe ich noch den ganzen Tag ein bisl gefiebert, nicht sehr beträchtlich
(37.7), aber Schnupfen und Husten waren in schönster Blüte.

Ich habe mir um ½11 Uhr Deine Novelle bei der Frieda holen
lassen und um ½4 Uhr hatte ich ausgelesen. Ich glaube, dass sie stilis¬
tisch zu den Höhepunkten Deines Schaffens gehört, dass sie ausserordent¬
lich spannend ist und dass sie ein grosser Erfolg sein wird und ich
freue mich, dass sie im jetzigen Zeitpunkt herauskommt. Eine kleine
Ueberlegung oder richtiger ein Bedürfnis nach Motivierung lässt mich
Dir nur vorschlagen, ob man nicht auf S.15 in Anknüpfung an den Fall
Hohenburg erwähnen oder andeuten sollte, dass irgend ein Vorfahre der Brü¬
der nicht ganz normal war oder als nicht normal gegolten hat. Dies, um
Roberts Spiel mit dem Wahn zu erleichtern oder vielleicht um die Stelle
»wenn Einer von uns ins Dunkel muss« zu begründen.

Ich mache diesen Vorschlag natürlich nur mit Rücksicht auf
den Leser, denn für mich privat ist Robert weder verrückt noch verfol¬
gungswahnsinnig, noch hat er die krankhafte Anlage es zu werden. Für mich
ist es keine Krankengeschichte, auch nicht, wenn sie von Maupassant wäre.
Nervös, neurasthenisch mag Robert sein (geistig ist er ganz gesund), aber
er spielt vor Andern und vor sich selbst den nicht ganz Normalen, um sich
eine Ausnahmsstellung zu schaffen, nicht mit bürgerlichem Mass gemessen
zu werden und eine Entschuldigung vor sich und Andern zu finden. -

Mit demselben Recht wie er könnte auch der Held im »Mörder«
sich für verrückt halten. Nur spielt Robert so lange den geistig Gestörten,