Tagebuch von Clara Katharina Pollaczek, 12. Oktober 1930

Ich: »Ich möchte das Haus nur nicht zu zeitlich verlassen, denn meine
Schwester kommt am Nachmittag.« – Er: »Ich ruf dich noch am ½4 Uhr an.
Vormittag bleibe ich zuhause, gehe eventuell vor Tisch ein we[n]ig fort.«

Ich: »Das hättest du mir wirklich früher sagen können, denn es ist
schade bei dem schönen Wetter nicht irgendwo hinauszuwandern und ich
hätte etwas vereinbaren wollen. -Er: »Nun das wird vielleicht jetzt
auch noch gehen.« – Ich: »Ich werd's versuchen.«

Es war mir natürlich sofort klar, dass er entweder einen Anruf oder
einen Besuch erwarte oder etwas vor hatte. Um ½12 ging ich vom
Hause fort und in die Pötzleinsdorfer Allee. Noch nicht weit gegangen
sehe ich ihn in grosser Entfernung mit einem riesigen Frauenzimmer,
die ohne Kopfbedeckung an seiner Seite schlendert. Sie sind so weit
fort, dass ich ihn nur an Gang und Haltung erkenne. Ich laufe in einem
wahnsinnigen Tempo ihnen nach, hemme dann den Schritt, gehe ruhig an
ihnen vorbei und rufe ihm munter zu: "Guten Morgen, Herr Doktor" und
laufe ohne mich umzublicken weiter. Hier werden vielleicht die Lösungen
für alles liegen, was ich seit Monaten mitmache. Und was jetzt? -

Ich suche mir vorzumachen, dass es eine zufällige Begegnung war. Aber
es sah nicht darnach aus, eher nach etwas Gewohntem.

Ich musste mich später setzen, weil meine Beine so zitterten. Dabei
sieht die Person so gewöhnlich aus, so unsoigniert, dass ich es kaum
begreife. Am ehesten halte ich sie für die, mit der er vor 8 Jahren
vor mir eine kurze Beziehung hatte. Und mir graust ein wenig bei dem
Gedanken. Unappetitlich!

Gestern Mittag hatte er eine Amerikanerin ein Fräulein Rethy bei sich
zu Tisch. Frieda wurde weggeschickt. Tête-ä- tête. Aber so wie
die Heutige sieht eine Amerikanerin nicht aus.

2. Uhr. Ich hatte richtig erraten. Es ist die vor 8 Jahren, wie er mir
eben telefonisch sagt. Und er schwört, er habe sie zufällig getroffen,