Tagebuch von Clara Katharina Pollaczek, 28.–30. September 1930


Vormittag noch zu ihm kommt, da sie um zwei Uhr abreist. Er hält
mich wirklich für sehr dumm. Ich soll Mittag zu ihm, werde sehr
freundlich sein. Szenen – nein! Das ist vorbei. Aber wie du mir, so
ich dir, wenn auch mein Herz blutet. Macht ihm so eine Beziehung
Vergnügen, bitte!

4 Uhr. Gegenseitig freundlich-liebenswürdig, nichts Persönliches.
Er liest mir Hugos Briefe an Minnie B. und ihre Mutter vor. Wie viele
Erinnerungen sind für mich mit jener Zeit verknüpft. Die Briefe wun¬
derschön, aber verlogen und verleugnend. Wer weiss das besser als ich.
Wenn man denkt, dass Minnie aus dem Irrtum, dass ich mit Mimi sie
gemeint habe, in niedrigem Rachegefühl den anonymen Brief an meine
Eltern schrieb oder schreiben liess, der meine Einakter in der Freien
Bühne (Neue Deutsche Rundschau) mit dem Prolog Hugos verriet und so
mein Leben in die Bürgerlichkeit zurückwarf, könnte man fast sagen:
schicksalhaft, – wenn ich nicht wüsste, dass mein Wille zu schwach war.

29.9. Gestern Abend eine der widerlichsten Szenen zwischen uns. Er
frug mich, was ich morgen Abend tue. Ich sagte, ich bin nicht zuhause.
Er wollte durchaus wissen, wo ich bin. Ich erklärte, dass ich keine
Veranlassung habe Rechenschaft abzulegen, da wir ja angeblich »frei«
sind. Ich antwortete lächelnd, aber es wurde daraus, eine hässliche
Auseinandersetzung. Er möchte alles wissen, was ich tue und
mir von sich erzählen, was ihm passt. Er behauptet, er verheimliche
mir nichts. Ich habe nicht zu verheimlichen. Aber unmöglich ihm
irgend etwas plausibel machen zu wollen und ich bin für alles schon
zu müd.

Mittag bei Anna. Nachmittag beim Clara H., Abend mit A. Man findet
mühsam wieder in einen anständigen Konversationston zurück.
30.9. Charmanter Brief von Hofrat Pirquet. Er ist glücklich, dass wieder
etwas von mir in der Presse erscheint. Ueberschrift: »Verehrte Meisterin«