Tagebuch von Clara Katharina Pollaczek, 3. September 1930


ehemaligen Rittmeister Kerst (mein Kriegsflirt), den ich 15 Jahre nicht
gesehen. Ich habe gewusst, dass er verheiratet ist und in M. lebt, aber
nicht wo. Emmy R. hatte mir für eine zufällige Begegnung mit ihm Grüsse
aufgetragen. Nachdem ich mich durch eine Frage am Schalter vergewissert
habe, dass er es wirklich ist, klopfte ich an der offenstehenden Türe
an. Er erkannte mich sofort, schien sehr erfreut, fand mich unglaublich
unverändert, kurzum mein Selbstbewusstsein wurde etwas gehoben. Er sprach
von seiner Frau, die um 23 Jahre jünger ist als er, liess durchblicken
(oh Männer.), dass es keine grosse Liebe war. So schön und elegant wie
einst ist der Herr Rittmeister nicht mehr. Immerhin war es nett ihn ge¬
sprochen zu haben. Ich erzählte es A., als ich heimkam. A. fand mich
glänzend aussehend, wurde zärtlich, fast stürmisch. Ich bin zurückhaltend. Ich
sagte, ich mag keine Sinnlichkeit, wenn nicht auch die Seele dabei ist.
Er antwortete: »Ich habe dich immer gleich lieb. Nie ändert sich etwas
in meinen Gefühlen zu dir, nur die Fähigkeit sich zu äussern ist ver¬
schieden[«] und hänge mit seinem jeweiligen Befinden, seiner Stimmung zu¬
sammen. Es ist als ob Nebel sich teilen würde. Er bewundert wieder alles
an mir. Ich frage lachend, fast übermütig: »Warst du mir immer treu?«
Er: »Ich schwöre dir, mir ist noch nie der Wunsch gekommen dich zu be¬
trügen.« Stundenlang wirbt er um mich. Ich werde nicht mehr widerste¬
hen können