Clara Katharina Pollaczek an Arthur Schnitzler, 1. Januar 1930

Wien, 1.1.1930. Abends.

An A.S. nach Berlin.

Liebster,

ich danke Dir sehr für Deine schönen Blumen, die um die
Mittagszeit kamen und den Anruf heute Früh. Auch Dein Brief vom 30.,
die erste schriftliche Nachricht seit Deiner Abreise, ist im Laufe
des Tages eingetroffen. Zwinge Dich nur ja nicht zum Schreiben, wenn
es Dir kein Bedürfnis ist. Man soll sich überhaupt zu nichts zwingen.
Ich war gestern den ganzen Abend allein zuhause
und bleibe es auch heute. Einen Moment dachte ich daran in ein Kino
zu gehen, aber fast ist mir die Stille um mich herum lieber. Ich habe
schon zwei Bände »Christin Lawrence Tochter« gelesen. Anderthalb
Bände habe ich atemlos verschlungen, gerade wie in meiner Jugend den
»Ekkehard«, aber dann zieht es sich, bleibt immer dasselbe, ermüdet und
man hat genug vom Mittelalter, der stilisierten Schreibweise, dem endlo¬
sen Getue mit Sünden. Vergeltung, Bigotterie und religiösem Quatsch. Ich
lese es nur aus Pflichtgefühl zu Ende.

Zu Tisch waren meine alte Tante Clara, Anna, Maria, Cary und
Magda hier und damit haben meine Festlichkeiten im Haus auf längere
Zeit ein Ende. Dies musste sein, aber es ist mir mit diesem Mädchen
zu mühsam und überhaupt zu kostspielig so oft einzuladen. Gestern lag
ich schon um ½10 im Bett, nahm ein Phanadorm, um bestimmt bald einzu¬
schlafen und bat meine Geschwister und meine Kinder mich ja nicht an¬
zurufen. Morgen sind ja die Feiertage überstanden. Für die nächsten
Tage habe ich allerhand vor. Morgen rede ich in erster Linie mit Be¬
nedikt.

Nochmals alles Gute für das Jahr 1930. Bleibe gesund und werde
noch gesünder und froher vor allen Dingen. Es umarmt Dich Deine C.K.
Minna brachte mir von sich und Marie wunderschöne langstielige Rosen.
Die Fasane hatte sie schon Deiner Familie geschickt, worüber ich sehr
froh war.