An A.S. Berlin.
Wien, 1.1.1929.
Liebster,
ich habe Dir gestern nicht geschrieben, da ich ja mit
der Morgenpost einen Brief abschickte und den Sylvesterabend trotz
aller guter Vorsätze in einer mässigen Stimmung verbracht habe. Die
Stille und Oede des Tages wurde nur durch einen kurzen Besuch Minnas
unterbrochen, die mir noch den letzten Flieder herüberbrachte – ein
lieber Gedanke von ihr. Meine Hausfrau gab rote Rosen an der Tür ab.
Sonst war ich immer allein und Sturm und Regen waren die eintzigen Ge¬
räusche die zu mir kamen. Gegen Abend kam Dein Brief. Wenn ich auch
begreife, dass Du des »Oedipus« und Heinis wegen länger in Berlin
bleibst, so bin ich doch enttäuscht, denn ich hatte diesmal wirklich
geglaubt, dass Du Donnerstag oder Freitag hier sein wirst. Dies soll
kein Vorwurf sein, aber eine Erklärung meiner etwas zerpatschten Stimmung
Sophie war zu ihrer Tante gegangen und ich sass da, unfähig
zu arbeiten, schluckte mühsam die »Eugenie« zu Ende, ass eine Schinken¬
semmel und trank einige Gläser Portwein. Einen Augenblick lang dachte
ich daran mich schön anzuziehen – Spitzenkleid und Abendmantel – ins
Grand Hotel oder Bristol zu fahren und dort zu nachtmahlen. Ich hatte
Sehnsucht nach Lichtern, Menschen, Musik. Aber dann wusste ich doch,
dass das alles für mich viel zu teuer ist und nicht dafür stehen wür¬
de und ich spann mich wieder in allerhand Gedanken ein, die sich um
Dich und mich drehten und sicher nicht böse, nur ein wenig traurig wa¬
ren. Um 11 Uhr nahm ich Phanodorm und ging zu Bett, um 12 Uhr weckte
mich mein Bruder Otto mit einem telefonischen Neujahrswunsch.–Heute
waren zu Tisch meine alte Tante und die Kinder da. Sie gingen alle
gleichzeitig nach dem Essen wieder fort. Sonst bin ich wieder den gan¬
zen Tag und Abend allein. Um die Mittagszeit war ich eine Viertelstunde
an der Luft. Es war nasskalt und rutschig. Am Nachmittag habe ich am