Arthur Schnitzler an Clara Katharina Pollaczek, 28. August 1928

Hohenschwangau, 28.8.1928.

Liebstes, ich will chronikalisch die Geschichte der letzten zwei Tage
nachtragen, an denen ich Dir nur Karten geschrieben habe. Am Sonntag
ein allgemeiner Spaziergang über Marienbruck- Jugend nach Neuschwan¬
stein, und zurück; – gleich nach Tisch am See; – nachher die übliche
Müdigkeit; ein wenig gelesen, erst gegen Abend wieder ins Freie. Eine
kleine Promenade der Ebene zu (siehst Du die Landschaft noch sehr vor
Dir?) Gestern Montag im Auto auf den Fernpass, an Lermoos vorbei, wo im
Jahre 1922 Lili mit Heini und O.; sowie in Gesellschaft von Marianne
Pol. und Liesl gewohnt.–Ich war damals nicht dort gewesen. Sie kamen alle
nach Berchtesgaden von dort. – Vom Fernpass aus über Ehrwald nach der
Zugspitzbahn; (Schwebebahn); – hinauf zur Spitze ; – (gegen
3000 Meter glaub ich), vielmehr auf eine Art von kleinem Plateau; von da
aus spazierten noch Heini, Ruth, Arnoldo angeseilt auf die beiden
wirklichen Spitzen (keine schwere Sache); – auch Damen mit Halbschuhen,-
ohne Seil kletterten hinauf.–Für mich wäre es nichts gewesen, da der Weg
immer auf dem Grat geht. So sahen wir uns das weitgedehnte Panorama
von dem Plateau aus an; – und auch das Touristenvolk, unter dem
die lächerlichen Figuren in der Mehrzahl waren. Mit uns zugleich war ein
etwa 20jähriges Mädchen heraufgekommen, -verkrüppelt, ärmlich, mit einge¬
schienten Beinen, die sich auf zwei Stöcken mühselig fortbewegte; -offen¬
bar eine kleine Buchhalterin oder Telefonistin auf Urlaub; -wir bewun¬
derten ihre Energie; -sie sagte: »Die Welt ist ja so schön, ich will mir
möglichst viel ansehen – und ihre Augen strahlten geradezu in die
Runde-; ich muss Dir meine Gedanken, meine Gefühle nicht schildern. Immer
wieder von neuem bricht einem das Herz.–Du sagst, es wären wahrscheinlich
noch Erlebnisse gekommen, denen ich dann nicht gewachsen gewesen wäre; -
möglich – dass noch manches Schwere hätte kommen müssen: – schwerer
gewiss nicht – unabänderlicher als jetzt geschehen ist: – Und bin ich
dem denn »gewachsen«? Ich überlebs na ja, – und ich werde gewiss auch wieder