Semmering, 25.8.1928.
An A.S. Hohenschwangau.
Mein Liebes,
heute bleibe ich wohl ohne brief von Dir, denn die ein¬
zige Post, die am Sonntag ausgetragen wird, war schon da.
Ich bin bei Donner und Blitz aufgewacht; ein Gewitter um
½8 Uhr Früh, das später in Regen überging und dieser in aufsteigende Nebel
und vorübergehenden Sonnenschein. Jetzt sieht es wieder eher nach
Regen aus und es ist schwül.
Ich bin um 10 Uhr in die kleine Milchwirtschaft gegangen,
die ich seit drei Tagen gegen die Meierei getauscht habe. Sie liegt
oberhalb des Hochwegs und ist ein sehr komisches kleines Lokal mit
einer Terrasse und roten Schirmen und einem sehr herzigen appetitli¬
chen Frühstückszimmer. Nur eine Dame war ausser mir noch da. Nach
dem Kaffee verlangte sie eine Zigarette – man brachte sie ihr, dann
verlangte sie kohlensaures Natron, man brachte es – dann verlangte
sie eine Sonntagspredigt – und sofort erklang per Radio die Stimme
eines ungarischen Priesters. Der Wirt erklärte entschuldigend, bei
uns in Wien beginne das Hochamt erst um 11. Ich lief davon und weiter
bis zum Panhans. Am Heimweg kam mir ein nach Hunderten zählender
Zug von Sozis entgegen mit roten Flaggen, roten Blusen oder roten
Kravatten, meist Lausbuben, auch Weiber und halbwüchsige Mädeln und
schliesslich auch eine grosse Musikbande. Sie sangen: »Wir sterben
für unsere Fahne« – aber sie sahen aus, als täten sie es eher für ein
Glas Bier. Dann sangen sie auch: »Wir schützen mit unserm Arm die
Erde, auf dass die Welt erlöset werde« oder so ähnlich. Die werden's
machen!! Meinst Du nicht?
Ich glaub, ich werde wieder weiter spazieren laufen. Es ist
so eine Unrast in mir, wenn ich nicht an Dich schreibe zieht es mich
hinaus. Gestern Abend ging ich um ½10 noch in die Halle hinüber, um