An A.S. nach Venedig-Lodo.
Wien, 11.9.1927.
Liebster,
heute Mittag kam Dein Expressbrief an, dem ich mit ei¬
nigem Bangen entgegengesehen habe. Er sagte mir nichts Neues, nichts
Anderes. Es ist immer, als redete ich an Deinem Herzen vorbei. Was
soll ich antworten, was beschliessen? Womit tue ich Dir und mir am
wenigsten weh?
Du sagst: »Es wurden grössere Opfer von liebenden Frauen
und um geringerer Werte willen gebracht.« Zugegeben. Aber haben
nicht grosse, bedeutende Männer für (vielleicht schönere), aber si¬
cher nicht bessere Frauen mehr Gefühle verschwendet,im wahrsten
Sinn des Wortes? – Mit Beispielen kommen wir nicht aus, es kommt doch
immer auf die Beteiligten an. Gewiss verstehe ich, dass es eine Er¬
leichterung Deines Lebens bedeutet, dass Zwist und Gehässigkeiten zwi¬
schen Dir und O. aufgehört haben und ich hätte sicher auch nichts
gegen fallweise Gespräche zwischen Euch, wenn sie nicht die wäre, die
sie nun einmal ist: hemmungslos und geschmacklos in allem, was sie tut
und spricht. Wenn sie nur einen Funken Zartgefühl hätte, so würde sie
sich nicht jetzt wieder in den Cottage hinaussetzen. Frau Schneider
ist keine genügende Begründung und man darf sich das Leben nicht gar so
bequem machen. Sie hätte ihre Freundin auch in einem anderen Bezirk
Wiens treffen können. Aber nicht um das handelt es sich, was sie hätte
tun sollen, sondern, was aus uns werden soll.
Sieh, mein Kind, damit Du siehst, dass es bei mir nicht
Starrsinn, nicht Einsichtlosigkeit ist, will ich Dir sagen, was ich möch¬
te. Ziehen wir durch diese letzte Zeit einen dicken Strich und be¬
ginnen wir mit reinem, frohem, zuversichtlichem Herzen eine neue Zwei¬
samkeit, so als ob wir uns vor ein reines weisses Blatt setzen würden,
um eine frische, wunderschöne Arbeit zu beginnen. Nur dass wir auf
dieses Blatt Beide gemeinsam mit guten Gefühlen schreiben müssen,