Seelisberg, 10.8.1924.
(nach Celerina)
Liebster, ich habe zwar heute keine Nachricht von Dir, aber ich will
das nicht so genau nehmen und Dir ein paar Zeilen senden, um mich Dir
dadurch einige Augenblicke näher zu fühlen.–Ich weiss nicht, warum
mir so ist, als wärest Du schrecklich fern und es erscheint mir ganz
unwirklich, dass wir uns erst kürzlich so nahe waren.
Ich muss sagen, dass es mir hier noch immer nicht sonderlich gefällt,
die Sonne will nicht scheinen und mir ist innerlich und äusserlich
kalt.
Wie bald wird dieser Sommer um sein, der für mich noch nicht begonnen
hat und man ist wieder in Wien und geht dem endlosen kalten langen
Winter entgegen.
Die Leute um P. herum sind mir recht unsympathisch und da ich mich
ihnen möglichst ferne halte[ ] fühle ich die allgemeine Feindseligkeit
gegen mich wachsen. Die arme Hermine laviert hin und her, bekommt Vor¬
würfe, dass sie sich zu viel um mich kümmert und dass mir niemand gut
genug ist.
Gestern Abend war Ball. Ich sah in meinen schwarzen Abendmantel gewi¬
ckeltmit den Andern eine Weile zu, lehnte die Aufforderung eines klei-
nen jüdischen Arztes (das soll kein Vorwurf sein, nur eine Schilderung)
mit ihm zu tanzen energisch ab und verschwand um zehn Uhr lautlos in
mein Zimmer. Ich hatte ein bischen Halsweh und fieberte, was ich mit
Pyramidon coupierte.
Heute gelang es mir anderthalb Stunden allein spazieren zu gehen. Ich
habe in Gedanken an der neuen Novelle gearbeitet und will jetzt mit dem
Niederschreiben beginnen. Es ist ½5 Uhr, wo magst Du wohl eben sein?
Was magst Du sprechen, denken? – Ich bin neugierig, wie lang ich hier
bleibe und was ich plötzlich beschliessen werde.–Mir erscheint alles so
sinnlos und hat doch sicher einen Sinn. »Man glaubt zu schieben und man
wird geschoben«.
In dem riesigen Speisesaal heute Mittag waren mindestens 300 Menschen,