Wien, 1. Juli 1924.
Liebster Freund. Dem gestrigen ermüdend schwülen Tag ist heute ein
trüber regnerischer gefolgt und ich habe beschlossen gar nicht aus¬
zugehen. So habe ich Zeit zu schreiben.
Dank für Deine Samstag-Zeilen, die ich gestern erhielt und mühsam ent¬
zifferte. Leider steht nichts von all dem drin, was ich wissen möchte -
weder von äusseren Eindrücken noch von inneren Vorgängen. Und dann:
»Il y des mots – c'est a cause de mots, que l'on aime«. So steht ge¬
schrieben in »Histoire d'une Marie de Baillou[«] und ich denke, dass Du
diesen Satz und mich verstehst. Dies ist aber nicht das einzige
Buch, das ich Deiner Bibliothek entnommen habe. Bitte sei nicht böse!
Fräulein P. brachte mir auf meine Bitten mit einigen Widerstreben
»Les lettres à une étrangères. Es ist bestimat bei Dir, ehe Du zurück
bist. Uebrigens bin ich gestraft. Ich fand einige Stellen von Dir an¬
gestrichen, die mich sehr quälen, aber fragen werde ich erst mündlich.-
Die Briefe sind übrigens so unerhört schön, dass ich alles andere
fortgelegt habe und nichts anderes lese. Es ist übrigens gar nicht
richtig, dass er sie nie gesehen hat. Er hat jede Möglichkeit ausge-
nützt, um mit ihr zusammen zu sein und sie hatte einen Mann und lebte
in einem andern Land und ich habe das Gefühl, dass sie diese grosse
Liebe gar nicht wert war. Aber vielleicht irre ich mich.
Nun will ich aber von den vergangenen Tagen nachtragen. Sonntag Vormit-
tag am Friedhof, dann bei meinem Bruder Otto zu Tisch, dann zum Thee
bei Emmy Erlanger, wo auch Lotte Menasse war. Wir haben uns gegenseitig
von unseren pekuniären Sorgen erzählt- es war nicht sehr heiter. Um
½ 9 war ich zuhause und habe lang gelesen. Gestern Vormittag geschäft¬
liche Unterredung mit meinem Bruder und Biedermann-Bank. Dann rasch
wieder nachhause, wo gestern der Vacuum Cleaner arbeitete. Um 4 Uhr
kam Frl.P., der ich die letzten 5 Gedichte zum Abschreiben übergab.
Während ihrer Anwesenheit rief ich Paul W. an, der mir aber sagte, er
wisse selbst nichts über das Nichterscheinen der Gedichte und habe