Tagebuch von Clara Katharina Pollaczek, 26. April 1924

Der Wille, die Macht jung zu sein liegt in meinem Wesen, in meinen Tem¬
perament. Ich muss mir oft sagen: Du hast erwachsene Söhne, mein Kind,
empfinde doch nicht wie ein zwanzigjähriges Mädel.

Ich glaube nicht, dass ich je eine Geschmacklosigkeit begehe. Viele Leute
behaupten, dass es lächerlich ist, wenn ich nicht mehr tanzen will und
immer von meinem Alter und meinen erwachsenen Söhnen spreche. Aber ich
habe solche Angst, dass man sich über mich lustig machen und glauben könn¬
te, ich will mich jünger machen, weil ich immer gleich von meinen 25jähri¬
gen Söhnen erzähle. Fremde haben das schon oft für einen schlechten Witz
von mir gehalten.

Wir leben in einer so tollen Welt, dass viele Frauen, die älter sind als
ich, in Tanzkurse und zu Tanztees laufen. Ich finde das schrecklich. Aber
ich leugne nicht, dass ich manchmal auch Lust zu tanzen hätte und viel¬
leicht besser und schöner tanzen würde als manche. Aber in meinem Herzen
jung zu sein, dessen brauche ich mich doch nicht zu schämen.

Heute ist eigentlich der erste warme Frühlingstag und schon fühle ich, wie
die Erstarrung der letzten Zeit von mir abfällt und meine Lebenskräfte
sich steigern.

Ich freue mich, dass ich noch fühlen kann und lieben. Ich freuen mich dass
ich geliebt werde. Ich freue mich, dass meine Kinder schön und wohlgera¬
ten sind und dass wir gut zueinander stehen. Ich freue mich, dass A. mein
Freund ist. Ich freue mich, dass die Sonne scheint und dass man endlich
nicht mehr heizen muss.

Dass ich einen Ring verschleudern musste, um ein paar Rechnungen zu zah¬
len, um ein paar »wichtige« Dinge; Seidenstrümpfe etc. für mich. Anzug für
Kary u. s. w. anzuschaffen, spielt gar keine Rolle, weil die Sonne scheint.
Eben hat mich A. angerufen, um mir zu sagen, dass die »Beatrice« noch in
diesem Frühjahr in der Burg zur Aufführung kommt. Ich bin sehr froh da¬
rüber, denn ich liebe dieses Stück sehr. Aber ich weiss nicht, wer die Bea¬
trice spielen wird, spielen kann.