Tagebuch von Clara Katharina Pollaczek, 26. April 1924

Tagebuch.

26.4.1924. So lange hat der Frühling noch nie auf sich warten lassen.
Ostern ist vorbei, wir haben den 24. April und an den Bäumen und Sträu¬
chen zeigen sich die ersten grünen Spitzen. Ich wollte diesen Frühling
so recht geniessen und nun ist man um einige Wochen geprellt. Einige
Wochen weniger Sonne und Wärme. Junge Menschen mögen das verschmerzen,
aber ich? Wie oft werde ich mich noch dem Frühling entgegenfreuen,
entgegensehnen? Ich habe einmal meinem Sohn Karl Friedrich versprochen:
Wenn meine Haare weiss werden, beginne ich meine Memoiren zu schreiben.
Nun, meine Haare zeigen noch immer keine Neigung sich zu verändern
sind noch immer kastanienbraun mit roten Reflexen, wenn die Sonne darauf¬
scheint, aber ich weiss um die lange Kette der Jahre.–

Ich wunder mich. Ich wundere mich, dass man so lange auf dieser Erde
herumwandern kann, so schrecklich viel erleben, so angefüllt sein mit
Erinnerungen, mit Schmerz und Freude, mit Enttäuschung und Hoffnung, mit
Verachtung und Ekel und doch so gierig alles, was noch gut und schön ist,
in sich aufzunehmen, zu geniessen.

Manchesmal, wenn ich allein in meinem Zimmer sitze, fühle ich, wie meine
Züge altern. Ich werfe einen Blick in den Spiegel und sehe den müden Blick
meiner Augen, eine Furche zwischen den Brauen und meine Lippen, die ganz
schmal und blass geworden sind. Ein Gesicht, das niemand kennt, – nur
ich! Ich sage: Ich will nicht. Mein Mund wird rot, die Furche verschwin¬
det und meine Augen bekommen wieder Glanz. Ich lächle über mich selbst
und denke: Komisches Geschöpf! Ja, ich müsste eigentlich nur die Herr¬
schaft über meine Züge, den Willen jung zu sein verlieren, und die Leute
würden sofort sagen: Nun ist sie doch endlich alt! Anstatt noch immer zu finden,
dass ich »jung bin«, ein »Naturwunder«.

Man darf aber nicht glauben, dass ich unausgesetzt den Willen habe jung zu
scheinen, man würde mich für eitler und lächerlicher halten, als ich bin.