Arthur Schnitzler an Clara Katharina Pollaczek, 30. Juli 1930

St. Moritz, 30.7.1930

(nach Wien IX/Hochschulstr.)

Mein liebes Kind, Dein Brief – er ist nun 8 Tage alt – ist gut und
klug und ich hätte Dich gewiss nicht so lange auf Antwort warten las¬
sen, wenn mir das Briefschreiben nicht von Tag zu Tag mühseliger -
und im Grunde nutzloser erschiene. Ich muss mich doch immer wieder¬
holen und gegen ein gewisses continuirliches Misverstehen – das eigent¬
lich ein Misverstehen meines ganzen Wesens ist, bleibe ich doch machtlos.
Immer wieder sprichst Du über das, was Du mein Verhalten nennst, als
verfolgte ich mit diesem Verhalten einen Zweck, als läge mir vor
allem daran, insbesonders auch vor der Aussenwelt, meine Selbständigkeit,
meine Freiheit zu betonen – ohne dass dieser Wunsch in meiner Natur
begründet sei. Das ist ein Irrtum, mein Kind, mir liegt keineswegs da¬
ran meine relative Freiheit zu betonen – nicht vor Dir, nicht vor der
Welt – sondern sie zu besitzen; – so wie ich sie niemals misbraucht
habe, so wenig habe ich jemals auf sie verzichtet. Aber so oft diese,
trotz aller Zusammengehörigkeit weiterbestehende Einzelhaftigkeit mei¬
nes Wesens und meiner Existenz auch in der bescheidensten Weise zum
Aundruck kommt (ich will mich nicht in Details verlieren); – immer
gibt das zu Verdriesslichkeiten oder Schlimmerem Anlass für Dich und
für mich. Heute schon sprichst Du in Deinem Brief davon, Du wür¬
dest mich, wenn ich im Oktober oder Dezember nach Berlin fahre, lächelnd
zur Bahn begleiten – aber Du wünschtest zwei Monate programmloser
Zeit – als wenn hier überhaupt ein Programm vorläge – und als dürfte
ein solches Programm die geringste Rolle in unserer Beziehung spielen.
Ob ich nun im Lauf des Winters ein oder [ []]
sei es um Heini oder um Olga oder um andere Freunde und Bekannte zu
sehen – oder aus geschäftlichen Gründen. Du sprichst von Deinem Nerven¬
zustand, mein Kind – und Du darfst mir – trotz meiner kühlen Sachlich¬
keit glauben – dass es mir weh tut, wenn ich Dich leiden sehe. Aber